9. Februar 2012

ICH MUSS ES VERPASST HABEN





Zeichnung: U-Bahnhof Tempelhof. 2011, Kveta Kazmukova


ICH MUSS ES VERPASST HABEN


Ich finde gar nichts.
Alle Werbetafeln der U-Bahn scheinen ganz normal ihre Funktion auszufüllen – werben für irgendwelche Getränke.Nachdem ich das ganze U-Bahn-Gleis abgelaufen bin, verbreiten sich allmählich unangenehme Gefühle.

Ich muss es verpasst haben.
Das Kunstwerk ist anscheinend unwiderruflich nicht mehr da. Begleitet vom Lärm einer einfahrenden Bahn gehe ich nach Hause, die immer zudringlicheren Gewissensbisse zu verdrängen. Nichts bleibt übrig.



Doch auf dem Foto werde ich das Kunstwerk „besser“ finden – es wird im Fokus stehen. Es wird auf dem Foto eben der Ort zu sehen sein, wo ich jetzt nicht mehr bin und das Kunstwerk - genau wie es da gehangen haben muss. Sicherlich wurde der beste aller Momente für das Foto ausgesucht, das schönste Licht, die relevantesten Einzelheiten. Das Foto kann also mehr über die Sache verraten, als aus ihrem Wesen selbst zu erraten wäre. Das ist doch mehr wert als ein „nur“.

Aber, da ich das Kunstwerk ja verpasst habe und es nie vor meinen Augen hatte und es nie vor meinen Augen haben werde, fehlt in meinem Bewusstsein das, wodurch ich beurteilen könnte, was an der Fotografie schöner scheinen sollte, als in dem Wesen des Kunstwerks, inwiefern die Fotografie „mehr“ über es verraten kann, als die Gegenwart des Kunstwerks es könnte.

Höchstens darüber lässt mich das Foto bewusst werden, dass ein Kriterium für die Unterscheidung fehlt.

Auch wenn es so gewesen sein könnte, wie es auf der Fotografie zu sehen ist, habe ich dies sowieso verpasst – d. h. es ist mir in jedem Fall unmöglich dies zu erleben / die Frage nach der Möglichkeit des Wesens des Kunstwerkes befriedigend zu beantworten.
In diesem Fall verschmilzt also der „Mehrwert“ des Fotos mit der Tatsache des Fotos wie es vor einem liegt. Logisch – einmal zur Tatsache geworden, kann es nicht mehr sein.

Folglich kann man die Rede von irgendeinem „Mehrwert“ des Fotos, im Unterschied zu der abgebildeten Sache an sich als unwesentlich aufheben, und bloß das Photo als Tat oder Tatsache genießen. Fehlt das Kriterium, kann man auch den Unterschied weglassen.

Man kann doch kaum verleugnen, dass es ein Unterschied gibt, zwischen einem Betrachten des Fotos in einem U-Bahn-Gang und einem Betrachten zuhause, bzw. einem Betrachten des Fotos dieser Situation zuhause.
Natürlich, zuhause wird es immer kleiner, aber das hat weniger mit unserem Thema zu tun, als mit der Größe des jeweiligen „Hauses“. Die Situation wäre theoretisch überall simulierbar.

Selbst wenn alle anderen Verschiedenheiten beseitigt werden könnten, einen wesentlichen Unterschied zwischen einer Sache an sich und einer Sache als das Fotografierte wird es immer geben.

Wo wäre der zu finden?
In all dem, was auf der Fotografie fehlt.
„Was man nicht kennt, vermisst man nicht.“
Durch das Foto... erkenne ich es.

Als ein mögliches „so könnte es gewesen sein“, bzw. sicheres „nicht hier sein“ - ja. Aber ich erkenne, dass der Staub – obwohl sichtbar – nicht erstickt, der Schmutz nicht klebt und das Schwitzen nicht stinkt. Das alles tut nichts, ist nicht wirklich. Oder kann, was „so gewesen sein könnte“ einen Wert in der Wirklichkeit beanspruchen? Das wesentliche auf dem Foto fehlt, das Wesen der Sachen!

Also ist der Unterschied zwischen dem Foto und der Sache buchstäblich wesenlos. Seiner Natur nach verändert er nichts, außer mein gegenwärtiges Vor-dem-Bild-Sein (zu Hause, mit einer Tasse Tee) um eine Gewissheit zu bereichern: wie unwesentlich es ist, und insofern wie reich an Wesen sogar Staub sein kann, hätte sein können.

Muss gewesen sein.

*

Kveta Kazmukova, Judith Mohnfeld




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